Seit verschiedene Studien nahegelegt haben das in den letzten Jahrzehnten 75% der Biomasse der Insekten zurückgegangen ist, kann man im Umkehrschluss sagen das es davor vier mal so viele Insekten gab. Große Verluste gab es in der Zeit davor auch schon (Agrarrevolution, wie z.B. beschrieben in Rachel Carlsons Buch 'Der stumme Frühling'). Der Verlust von 75% bezieht sich auf die letzte Phase. Wie viele Insekten gab es um 1900 oder davor? Warum gibt es so wenig Daten?
Es wird immer einfacher historische Literatur in digitalisierte Bibliothekbestände zu finden. So entdeckte ich vor längere Zeit das um 1900 Maikäfer Eimerweise gesammelt wurden um Maikäfersuppe zu kochen. Erstaunlich! Undenkbar.
Manchmal kann man über Referenzlisten auch auf interessante Sachen stoßen. So auch in diesem Fall. Ich suchte nach einem Aufsatz von Franz Leopold Friedrich Sintenis (1835-1911). Er hat im vorletzten Jahrhundert Bestäuber beobachtet im Baltikum und darüber publiziert und dabei sich vor allem auf die Fliegen-Fauna (Diptera) fokussiert. Nach lang suchen fand ich das Digitalisat:
Sintenis, F. Bericht über die Ergebnisse und Beobachtungen an Hymenopteren, Lepidopteren und Dipteren im Frühling u. Sommer 1896. Sitzungsber. Ges. Dorpat XI p. 189—199.
Optimierte Version hier (sw, ocr, 0,3 Mb)
Gleich mehr dazu. Der Rückgang der Insekten in 1896 wird hier angesprochen und dabei auf ein Aufsatz von 15 Jahre davor verwiesen. Zu seiner Zeit muss das eine wichtige Quelle gewesen sein:
Adolf Karl Rössler (1880-1881): Die Schuppenflügler (Lepidoptoren) des Kgl. Regierungsbezirks Wiesbaden und ihre Entwicklungsgeschichte – Jahrbücher des Nassauischen Vereins für Naturkunde – 33-34: 1 - 393.
Optimierte Version hier (sw, ocr, 8,6 Mb)
Und wenn man diese Publikation(en) liest wird es einem doch etwas mulmig. Am meisten hat mir die Erwähnung des ändernden Klimas überrascht.
"...heissen Jahresreihe von 1851 bis 1861..."
was Rössler in Verbindung brachte mit Schmetterlinge die mehr Generationen im Jahr erbringen wie sonst und mit Arten die vom Süden aus nördlich ziehen.
Rössler ist sogar sehr vorausschauend:
"Um die allmälige Aenderung unserer Fauna für die Forscher eines
späteren Zeitalters erkennbar zu machen, habe ich auch oft die Zeit der
Erscheinung im Freien mit Tag und Jahr angegeben. Man wird
dann einen Maasstab haben (...) Insofern können Faunenverzeichnisse auch einen geschichtlichen Werth haben."
Damit ist er vielen Ökologen ein Jahrhundert voraus.
Ich habe mich gefragt ob das wirklich sein kann, ob die Klimaerwärmung wirklich so früh los ging und ob sie für den Wissenschaftlern von damals merkbar war?
Ein NATURE Artikel aus 2016 lässt wenig Zweifel übrig (obwohl die Interpretation der Daten noch diskutiert wird, passt es zu den beschriebenen Beobachtungen):
Die Abbildung habe ich für diesen Artikel angepasst. Das Original findet man hier. Es zeigt die relative Abweichung gegenüber einem 0 Wert weltweit: Static air temperature (SAT) & Sea surface temperature (SST). Siehe Artikel für weitere Details.
Rössler schrieb noch mehr beunruhigendes, z.B. über die Änderungen in der Landschaftspflege:
"Aspen, Eschen, Linden, Ulmen, Birken, Haselnuss u.s.w. stehen mit den sogenannten Forstunkräutern, wie Heidelbeeren, Ginster, Clematis und anderen der schönsten Pflanzen, auf der Vertilgungsliste. Hecken werden überall nicht blos im Feld, sondern auch im Wald, ja an den Waldrändern sogar, wo sie die Austrocknung des Bodens und das Verwehen des Laubabfalls zum grössten Nutzen des Waldes verhindern, schonungslos vertilgt. (...)
Bäumen am Waldsaum die nach aussen stehenden Aeste bis zum Gipfel abgenommen und damit jedes für Schönheit empfängliche Auge beleidigt worden. Die von Beeren und Insecten lebenden Vögel finden im Freien nicht mehr hinreichende Nahrung noch Nistplätze, sie siedeln sich, wo es noch mög1ich ist, in Parkanlagen an. Die Obstbäume im Feld werden in Folge des Fehlens der ihnen gleichsam als Blitzableiter dienenden Hecken immer ärger von schädlichen Insecten angegriffen, die frei gelegten Grundstücke vom Winde ausgetrocknet, im Winter vom Frost härter getroffen, bei heftigen Regengüssen die Dammerde, welche früher von den Hecken zurückgehalten wurde, in die Tiefen herabgeschwemmt.
Gelehrte Landwirthe und Geometer setzen den Eigenthümern eines noch in natürlichem Zustand befindlichen Wiesengrundes so lange zu, bis dieselben den Bach darin strecken lassen. Demselben wird ein möglichst gerades, kaum für den gewöhnlichen Wasserstand reichendes Bett angewiesen. In unseren meist stark abfallenden Thälern schiesst dann das Wasser pfeilschnell durch, die beständige Sorge erfordernden künstlichen Bewässerungsgräben werden bald vernachlässigt, es fehlt die unterirdische Feuchtigkeit, welche früher den Boden fruchtbar erhalten hatte"
So habe ich das im Studium nicht gelernt. Die systematische und großskalige Räumungen und Bachbegradigungen sollten viel später stattfinden. Dies macht klar das es mehrere oder längere Phasen gegeben hat.
Auch zu invasiven oder sehr oft eingeschleppte Arten kann er einiges erzählen:
"In der Regel werden die einer Gegend ursprünglich angehörigen Pflanzen folgegemäss am meisten von Raupen heimgesucht. Auswärtsher eingeführte, wenn auch noch so taugliche, werden der Insectenwelt nur in längeren Zeiträumen bekannt. (...) Acer platanoides und Pseudoplatanus dient in Süddeutschland, wo er einheimisch ist, vielen Raupen zur Nahrung, hier, wo er erst seit diesem Jahrhundert importiert wurde, ist er fast insectenfrei."
Und dann noch die Erkenntnis das die Menschen die Erdliche Biomasse in Nutztiere und Kulturpflanzen umsetzen, wozu Dave Goulson in seinem Buch 'Stumme Erde' schreibt und was Yinon M. Bar-On in Zahlen publiziert hat (hier), is bereits alt:
"So gehen wir einem Zustande entgegen, dessen äusserstes Ende in unberechenbarer Zeit sein würde, dass nur noch der Mensch mit seinen Hausthieren und Culturpflanzen auf der Erde übrig bliebe"
Für 2018 hat Bar-On eine grobe Schätzung hinbekommen:
"Today, the biomass of humans (≈0.06 Gt C) and the biomass of livestock (≈0.1 Gt C, dominated by cattle and pigs) far surpass that of wild mammals, which has a mass of ≈0.007 Gt C. This is also true for wild and domesticated birds, for which the biomass of domesticated poultry (≈0.005 Gt C, dominated by chickens) is about threefold higher than that of wild birds (≈0.002 Gt C)."
Rössler schrieb über die Zeit 1850-1880 in Deutschland. Friedrich Sintenis hat dann nachfolgend von seine Erfahrungen in Estland in 1896 berichtet.
Er schreibt wie zahlreich die Insekten auf Blüten waren:
"Als diese Faulbaumreihe blühte, hat sie mir unglaubliche Schätze an Dipteren eingetragen. Im Sonnenschein um Mittagszeit waren Blätter und Blüthen mit Fliegen aller Gruppen bedeckt. Aber auch der üppig bewachsene Boden des Abhangs wimmelte von Insecten, besonders schattenliebenden, die aus dem Gestrüpp und den Farnkräutern aufgetrieben wurden. Da alle diese Sträucher und Bäume im Mai blühten, entfaltete sich an diesem Abhang ein sehr reiches Insectenleben."
und
"Dort wuchsen an Feldrändern dichte Reihen von Pastinaca sativa L., an deren Doldenblüthen sich unglaublich viele Dipteren einfanden."
Eh, wie viele sind das dann?
"Stundenlang bin ich hier von der einen Gruppe zur anderen schreitend damit beschäftigt gewesen, von den Dolden der Büsche Dipteren und Ichneumonen abzulesen; die Blüthen waren immer wieder dicht besetzt. Hier habe ich schöne Dipterenarten in grosser Zahl gefangen, darunter einige offenbar noch ganz unbekannte."
Wie viele? Stundenlang sammeln auf ein dutzend Quadratmeter? Genauer werden wir es leider nicht erfahren. Vielleicht wird die Sammlung von Herr Sintenis noch etwas preisgeben (die Dipteren Sammlung soll in 1940 im Kaiser-Friedrich-Museum in Posen gebracht sein). Wenn er alle Fänge gesammelt hat und mit Datum und 'Auf Doldenblüten' versehen hat, wissen wir das er diese in einige Stunden gesammelt hat. Aber höchstwahrscheinlich hat er wie andere Entomologen nur einige Exemplare eines 'Morphospecies' gesammelt.
Trotzdem so wie Sintenis die Situation beschreibt findet man sie nicht mehr. Seine Beschreibungen waren in 1896 vor verschiedene Aussterbe-Wellen, lange vor dem 'Stumme Frühling', und 'Stumme Erde'. Ich möchte mal kurz rechnen. In der letzte Welle ist grob von 1990 bis 2015 75% der Biomasse verschwunden. Davor gab es also grob 4 Mal so viele Insekten. Aber 75% von was? Nicht von 100%. Wieviel verschwand vor 1990 in den anderen Phasen zusammen, 75%, 95%? Wenn wir von nochmal 75% ausgehen, heist das das es in der Zeit von Sintenis und Rössler damals 16 Mal so viele Insekten wie jetzt gab. Aber wenn man die Agrarrevolution betrachtet und die Aufzeichnungen von Rössler und Sintenis liest, die auch berichten von großräumige Lebensraumverluste, dann is die 95% doch realistischer? Wenn man die 95% nimmt, bedeutet das 4x20 = 100 Mal so viele Insekten wie jetzt. Wenn ich als Entomologe (der auch schon in Estland und Litauen unterwegs war und Bestäuber beobachtet hat) diese Beschreibungen Bildhaft vorstelle, denke ich das der Faktor dichter bei 100 als bei 16 liegt. Hundert Mal so viele Insekten (oder sogar 200 Mal?!) - Das sind Zahlen die wir uns kaum vorstellen können.
Ist das übertrieben? Ein sehr groben Blick in der Vergangenheit liefert dieser Artikel von Jeff Ollerton.
Diese Kurve der Ausgestorben Bienenarten in der Zeit vor 1990 lässt kein positiveren oder gemäßigteren Wert vermuten. Wie die Welt und ihrer Insektenreichtum in 1850 Aussah ist mit den oben geführten Zitate ein kleines bisschen lebhafter geworden und zum Nachdenken anregen, wie wir unsere zukünftigen Landschaften gestalten können.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen